Nachtzug nach Lissabon

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btb Verlag
Anspruch
5 von 5
Humor
4 von 5
Lesespaß
5 von 5
Schreibstil
5 von 5
Spannung
4 von 5

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Zusammenfassung zu “Nachtzug nach Lissabon”

Raimund Gregorius, Vorzeigelehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch in Bern, wird von allen nur Mundus oder „der Papyrus“ genannt. Der 57-Jährige lebt seit der Scheidung von seiner Frau Florence in einer Welt aus Büchern und ist stets korrekt und verlässlich. Für ihn ändert sich alles, als er auf dem Weg zur Schule eine junge Frau beobachtet, die sich scheinbar von einer Brücke stürzen will. Er hält sie zurück und nimmt sie mit in seinen Unterricht, aus dem sie sich kurz danach wieder davonstiehlt. Abgesehen davon, dass sie Portugiesin ist, erfährt er nichts von ihr. Raimund Gregorius trifft die Entscheidung, alles stehen und liegen zu lassen.

In einem Antiquariat fällt ihm zufällig das portugiesische Buch „Der Goldschmied der Worte“ des Autors Amadeo de Prado in die Hände. Schon die wenigen Sätze, die der Buchhändler ihm übersetzt, beeindrucken Gregorius derart, dass er beginnt, Portugiesisch zu lernen und sich schließlich Hals über Kopf auf eine Reise nach Lissabon begibt. Nur seinen Augenarzt und Freund Doxiades informiert er darüber.

In Portugal angekommen, schwankt er zwischen der Neugier und dem Drang, wieder nach Hause zu fahren. Nach und nach erkundet er das Leben des Arztes Amadeo de Prado, der, wie er herausfindet, bereits verstorben ist. Nach und nach rekonstruiert Gregorius die Geschehnisse während der Salazar-Diktatur, indem er mit Prados Schwester, Patienten, Lehrern und Freunden spricht, die Orte aufsucht, an denen Prado sich aufgehalten hat, sowie seine Aufzeichnungen aus „Der Goldschmied der Worte“ liest – und reflektiert dabei auch über sein eigenes Leben.
Als er nach wenigen Wochen überstürzt zurück nach Bern reist, ist nichts mehr wie zuvor, sodass Gregorius seinem neuen Leben in Lissabon eine zweite Chance gibt. Erst als er immer häufiger unter Schwindelanfällen leidet, muss er eine Entscheidung treffen…

Wichtige Charaktere

  • Raimund Gregorius
  • Doxiades
  • Kägi
  • Amadeo de Prado
  • José António da Silveira
  • Mariana Eça
  • João Eça
  • Adriana de Prado
  • Mélodie
  • Jorge O’Kelly
  • Estefânia Espinhosa
  • Natalie Rubin

Zitate

„Seine Aktentasche mit den Büchern, die ihn ein Leben lang begleitet hatten, war auf dem Pult zurückgeblieben. Oben an der Treppe hielt er inne und dachte daran, wie er die Bücher alle paar Jahre von neuem zum Binden gebracht hatte, immer in demselben Geschäft, wo man über die abgegriffenen, mürben Seiten lachte, die sich beinahe schon wie Löschpapier anfühlten. Solange die Tasche auf dem Pult lag, würden die Schüler annehmen, er käme wieder. Doch das war nicht der Grund, warum er die Bücher hatte liegenlassen und warum er jetzt der Versuchung widerstand, sie doch noch zu holen. Wenn er jetzt ging, dann mußte er auch von diesen Büchern weggehen. Das spürte er mit großer Klarheit, selbst wenn er in diesem Augenblick, auf dem Weg zum Ausgang, keine Ahnung hatte, was das eigentlich hieß: weggehen.“

„Es wurde bereits hell, als Gregorius das Wörterbuch zur Seite legte und sich die brennenden Augen rieb. Er zog die Vorhänge zu und legte sich in den Kleidern unter die Decke. Ich bin dabei, mich zu verlieren, das war der Gedanke gewesen, der ihn zum Bubenbergplatz hatte reisen lassen, den er dann nicht mehr hatte berühren können. Wann war das gewesen?
Und wenn ich mich verlieren will?

„‚Und was machen Sie hier drin?‘ fragte er. ‚Ich meine, es steht mir nicht zu…‘
‚Schwer zu sagen‘, sagte Gregorius. ‚Ganz schwer. Sie wissen, was Tagträumen ist. Ein bißchen so ist es. Aber dann auch wieder ganz anders. Ernster. Und verrückter. Wenn die Zeit eines Lebens knapp wird, gelten keine Regeln mehr. Und dann sieht es aus, als sei man übergeschnappt und reif für die Klapsmühle. Doch im Grunde ist es umgekehrt: Dort gehören diejenigen hin, die nicht wahrhaben wollen, daß die Zeit knapp wird. Diejenigen, die weitermachen, als sei nichts. Verstehen Sie?'“

Trailer zum Film

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Persönliche Bewertung

Philosophische Reise eines alternden Mannes

5 von 5

Vorab: „Nachtzug nach Lissabon“ ist für mich ein Buch, bei dem ich zögere, eine Rezension zu schreiben, in der Sorge, diesem nicht gerecht werden zu können. Ich benutze an dieser Stelle ausnahmsweise, aber bewusst das subjektive „Ich“, weil dies meine persönliche Einschätzung ist und ich nicht unterstelle, dass es anderen Lesern genauso geht. Ich wage dennoch einen Versuch:

„Nachtzug nach Lissabon“ handelt von einer Reise eines alternden Mannes, dem plötzlich die verrinnende Zeit bewusst wird, weil er sein Leben „vom Ende her betrachtet“ hat und daraufhin eine „neue Wachheit“ spürt. Eine Reise ist es in drei verschiedenen Dimensionen: Einerseits ist es eine geografische Reise von Bern nach Lissabon, andererseits auch eine historische Reise in die Lebenszeit von Amadeo de Prado. Nicht zuletzt ist es eine philosophische Reise in das Bewusstsein der beiden Männer, die außer ihrer Liebe zur Sprache wenig gemeinsam haben.

„Die Zeit“ bringt es auf den Punkt, wenn sie den Roman einen „Bewusstseinskrimi mit Tiefgang“ nennt: Auf der Handlungsebene passiert auf den fast 500 Seiten nicht allzu viel (Spannendes). Auch die politischen Hinweise auf die Salazar-Diktatur bleiben oberflächlich. Stattdessen gibt es viel Philosophie und viel Bildlichkeit, wie zum Beispiel das Motiv von Gregorius‘ Kurzsichtigkeit. „Nachtzug nach Lissabon“ ist kein Buch, das nebenbei einfach so durchgelesen werden kann. Es fordert die ganze Aufmerksamkeit.

Der Roman spielt auf zwei Ebenen: In der „Gegenwart“ folgt der Leser Gregorius bei seiner Entdeckung der fremden Stadt und der fremden Sprache, auf der zweiten Ebene setzt sich das Leben Amadeo de Prados nach und nach wie ein Puzzle zusammen. Deshalb sind die beiden Männer gleichwertig als Protagonisten zu betrachten. Die Aufzeichnungen des Portugiesen, die in Zitatform immer wieder die „Gegenwart“ durchbrechen, enthalten in ihrer Einfachheit und Tagebuchähnlichkeit die zentralen Fragen der Philosophie und regen, wenngleich sie nicht immer Antworten liefern, zu interessanten Gedanken an. Als Leser sollte man sich überlegen, einen Block und einen Stift neben dem Buch bereit zu halten – es könnte vorkommen, dass man sich die treffsicheren und poetischen Formulierungen über Dinge des Alltags wie Freundschaft, Tod, Familie und den Sinn des Lebens notieren möchte.

Kritisiert wurde in einigen Rezensionen, dass Pascal Mercier Amadeo de Prado geschaffen hat, um seine eigene Genialität unter dem Vorwand eines fiktiven Autors, der mit seiner ganzen Person wie ein Heiliger alle in seinem Umfeld fasziniert, offenkundig machen zu können. Ob diese Kritik berechtigt ist oder nicht, muss jeder Leser für sich entscheiden. Selbst, wenn sie zutrifft, ändert es nichts daran, dass die Gedanken, die Mercier Amadeo de Prado nicht direkt in den Mund, sondern eher in den Kopf legt, genial sind! Philosophieexperten kritisieren, dass die Thesen zu oberflächlich und kitschig und keine richtige Philosophie seien. Ein gewisses Pathos kann man Amadeo de Prados Zeilen nicht absprechen (was die Figur selbst thematisiert und zugibt). Da es sich aber um tagebuchähnliche Essays handelt und nirgendwo versprochen wird, es werde anspruchsvolle Philosophie geleistet, sind die Passagen hundertprozentig glaubwürdig.

Die Figur Raimund Gregorius hat in ihrer Verstaubtheit und Tölpelhaftigkeit vielleicht nicht unbedingt mit vielen Lesern etwas gemeinsam. Nichtsdestotrotz ist es gut möglich, den Protagonisten sympathisch zu finden und sich mit ihm zu identifizieren, insofern man schon einmal an dem Punkt im Leben stand, an dem man sich die Fragen gestellt hat: War das schon alles? Was möchte ich noch erleben? Was für ein anderes Leben könnte ich führen? – Einmal wie Raimund Gregorius alles stehen und liegen zu lassen und eine Reise zu sich selbst zu unternehmen: Wer hat nicht schon einmal mit diesem Gedanken gespielt? Insofern bietet „Nachtzug nach Lissabon“ universelle Philosophie über Themen, die die meisten Menschen unabhängig vom Alter und den Lebensumständen irgendwann beschäftigen.

Zu guter Letzt noch einige Worte zur Verfilmung des Buches, die im März 2013 in die Kinos kam. Ebenso wie im Buch dominieren auch im Film Melancholie, Ruhe und Langsamkeit. Was im Buch nicht allzu sehr stört, weil viele Passagen mit Gedankengängen, Philosophie und Szenenbeschreibungen gefüllt werden, ist im Film natürlich ein größeres Problem, da die Kinobesucher ein gewisses Maß an Handlung und Spannung erwarten. Wer das Buch nicht kennt, dem erscheinen Gregorius‘ Verhalten und Motive zum Teil vermutlich schwer nachvollziehbar. Warum veranlasst ihn die kurze Begegnung mit der Portugiesin, sein geordnetes Leben aufzugeben? Warum ist er schon von wenigen Worten aus Amadeo de Prados Buch derart fasziniert? Was treibt ihn an? All das bleibt trotz der großen Leistung Jeremy Irons‘ oft unverständlich.

An vielen Stellen wurde sehr frei mit der Buchvorlage umgegangen. Während sich Raimund Gregorius im Buch bewusst ein Ticket nach Lissabon kauft, weil er dem Reiz des fremden Landes, der neuen Sprache und des geheimnisvollen Autors auf die Spur kommen will, ist die Zugfahrt im Buch eher eine Kurzschlusshandlung. Das Ticket nach Lissabon findet er im Buch Amadeo de Prados, das sich wiederum im Mantel der jungen Portugiesin befindet, die diesen in seinem Klassenzimmer liegen gelassen hat. Er fährt also mit der Intention zum Bahnhof, der Frau ihr Ticket wiederzubringen. Als sie nicht auftaucht, steigt er kurzerhand selbst ein. Diese kleine Änderung bezüglich des Anlasses der Reise macht einen großen Unterschied.

Es gibt weitere Dinge, die anders dargestellt werden, wie beispielsweise die Rolle der jungen Portugiesin von der Brücke, deren Identität am Ende des Films geklärt wird, da sie noch einmal auftaucht. Manche Personen werden komplett weggelassen, einige Beziehungen werden abgewandelt präsentiert (muss eine Romanze zwischen Gregorius und Mariana Eça angedeutet werden, weil kein Film ohne eine solche auskommt?), auch das Ende unterscheidet sich deutlich. Da dies aber bei jeder Verfilmung notwendigerweise mehr oder weniger der Fall ist, ist das nicht unbedingt negativ zu bewerten. Vielmehr muss klar sein, dass ein Buch wie „Nachtzug nach Lissabon“ mit seinen vielen gedanklichen Passagen schwer verfilmbar ist und der Film deshalb notwendigerweise eigenständig für sich betrachtet werden muss. Nur mit dieser Sichtweise ist man als jemand, der das Buch gelesen hat, nicht allzu enttäuscht. Sowohl das Buch als auch der Film haben ihren eigenen Wert, wenngleich es – und das ist nicht oft der Fall! – unbedingt zu empfehlen ist, auch nach dem Kinobesuch noch das Buch zu lesen, falls das vorher noch nicht geschehen ist. Man könnte zwar meinen, die Handlung sei schon bekannt und die Lektüre deshalb überflüssig. In diesem Fall ist es allerdings sehr lehrreich und ermöglicht neue und vor allem tiefergehende Sichtweisen und Erkenntnisse.

Zum Schluss sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der Film „Nachtzug nach Lissabon“ tolle Bilder zeichnet. Die Kulisse ist wunderschön und macht Lust auf eine eigene Reise in die Hauptstadt Portugals. Auch die Leistungen der Schauspieler müssen gelobt werden.

Fazit

„Nachtzug nach Lissabon“ ist die Reise eines Mannes, der sich der Vergänglichkeit des eigenen Lebens bewusst wird, in ein fremdes Land und in das Leben eines verstorbenen Autors. Die beiden Männer, die sich nie begegnen können, reflektieren über zentrale Existenzfragen, die den Leser zum Nachdenken über das eigene Leben anregen. Ein unglaublich bereicherndes Buch, an das der Film nicht ganz herankommt.

ISBN10
3442738881
ISBN13
9783442738885
Dt. Erstveröffentlichung
2008 (2004)
Taschenbuchausgabe
704 Seiten